Schmerz ist ein Output kein Input
- pehrenberger
- 9. Apr.
- 5 Min. Lesezeit

Stell dir vor, du kommst zum Physiotherapeuten mit Rückenschmerzen. Beim letzten Mal lief alles gut, es wurde besser, Bewegung war möglich. Dann machst du ein MRT, der Arzt schaut dich mit ernster Miene an und sagt: „Sie haben einen Bandscheibenvorfall.“
Plötzlich kannst du nicht mehr gerade stehen. Deine Schmerzen sind schlimmer als je zuvor, du gehst krumm und hältst dich am Türrahmen fest. Doch Moment mal – was ist eigentlich wirklich passiert?
Die Diagnose hat nichts an deinem Rücken verändert. Kein Nerv wurde plötzlich gequetscht, keine Bandscheibe ist über Nacht weiter herausgerutscht. Der einzige Unterschied ist, dass dein Gehirn jetzt eine neue Geschichte über deinen Körper erzählt. Eine, die sagt: „Kaputt!“ – und auf einmal tut es wirklich weh.
Genau da fängt das eigentliche Problem an. Schmerz ist nicht einfach ein Signal aus dem Körper, sondern das Ergebnis einer komplexen Berechnung deines Gehirns. Und manchmal macht dein Hirn ein paar Rechenfehler.
Also lass uns eintauchen in das, was Schmerz wirklich ist – eine hochkomplexe Simulation des Gehirns, die viel mehr mit Erwartung, Erfahrung und Emotionen zu tun hat, als du denkst.
Schmerz ist kein Input, sondern ein Output
Lange dachten wir, Schmerz sei einfach ein Alarmsystem. Du haust dir den Zeh an, das Signal wird über die Nervenbahnen ans Gehirn geschickt, dort kommt es an, und BÄM – Schmerz.
Aber dann kamen Neurowissenschaftler wie Ronald Melzack, Lorimer Moseley und Eric Cobb und sagten: „Nein, nein, das ist viel zu simpel.“
Denn in Wahrheit funktioniert Schmerz nicht wie eine Glocke, die bei Verletzungen automatisch losgeht, sondern wie eine Vorhersage des Gehirns darüber, ob du dich schützen solltest oder nicht.
Nozizeption vs. Schmerz – der große Unterschied
Dein Körper hat Nozizeptoren – Nervenendigungen, die auf gefährliche Reize reagieren (Hitze, Druck, Säure etc.).
Diese Nozizeptoren senden Gefahrensignale ans Gehirn – aber das ist nicht gleichbedeutend mit Schmerz.
Erst das Gehirn entscheidet, ob diese Signale wichtig genug sind, um Schmerz zu erzeugen.
Das erklärt, warum du dich in einer Extremsituation verletzen kannst, aber nichts merkst, bis der Stress nachlässt. Oder warum manche Menschen massive Verletzungen haben und trotzdem kaum Schmerzen spüren – während andere eine vermeindliche Kleinigkeit haben und sich vor Schmerzen winden.
Die Schmerzmatrix – dein Gehirn entscheidet, wann du leidest
Und hier kommt die große Erkenntnis: Es gibt kein einzelnes Schmerzzentrum im Gehirn.
Stattdessen gibt es ein riesiges Netzwerk von Hirnarealen, das Ronald Melzack die Neuromatrix nennt. Diese Matrix besteht aus mehreren Teilen, die Schmerz gemeinsam erzeugen:
1️⃣ Somatosensorischer Kortex – Wo tut es weh?
2️⃣ Limbisches System – Wie schlimm fühlt es sich emotional an?
3️⃣ Präfrontaler Kortex – Sollte ich mir Sorgen machen?
Das bedeutet: Schmerz ist eine hochgradig individuelle Simulation deines Gehirns.
Hast du schlechte Laune, bist gestresst oder hast Angst, dann bewertet dein Gehirn das Nozizeptor-Signal viel bedrohlicher, und der Schmerz steigt. Bist du hingegen abgelenkt oder gut gelaunt, wird der Schmerz schwächer oder verschwindet sogar ganz.
Deshalb funktionieren auch Placebo-Effekte – wenn du glaubst, dass eine Pille hilft, senkt dein Gehirn das Schmerzsignal einfach ab. Und genau deshalb kann Schmerz auch existieren, wenn es gar keine strukturelle Ursache gibt (z. B. Phantomschmerzen nach einer Amputation).
Lorimer Moseley: Dein Schmerz ist ein Fehlalarm
Der australische Schmerzforscher Lorimer Moseley beschreibt Schmerz als einen überempfindlichen Rauchmelder.
Stell dir vor, dein Rauchmelder schlägt Alarm, sobald du eine Kerze anzündest. Oder noch schlimmer: Er bleibt an, obwohl das Feuer längst gelöscht ist.
Genau das passiert bei chronischen Schmerzen: Dein Gehirn hat gelernt, viel zu früh Alarm zu schlagen – selbst wenn keine akute Gefahr mehr besteht.
Warum ist das so? Unser Gehirn ist formbar – es passt sich ständig an. Diese Fähigkeit nennt man Neuroplastizität. Sie ist grundsätzlich etwas Gutes, doch bei chronischem Schmerz wird sie zum Problem: Das Gehirn „lernt“ den Schmerz und verstärkt die entsprechenden Netzwerke immer weiter. Je länger das dauert, desto schneller und intensiver schlägt der Alarm – auch ohne körperliche Ursache.
Bewegungsvermeidung, ständiges Grübeln oder Angst vor dem Schmerz geben dem Gehirn dann nur noch mehr Gründe, im Alarmmodus zu bleiben.
Die gute Nachricht: Was das Gehirn gelernt hat, kann es auch wieder verlernen.Durch gezielte Bewegung, neue Reize und mentale Strategien kannst du ihm beibringen: "Es ist alles okay. Du kannst den Alarm ausschalten."
Spiel – das beste Schmerzmittel, das du nicht nutzt
Jetzt könnte man denken: „Okay, dann muss ich mich halt zwingen, durch den Schmerz hindurchzugehen.“ Aber das ist genau der falsche Ansatz. Der beste Weg, Schmerz zu reduzieren, ist viel eleganter: Spiel.
Klingt komisch? Ist es aber nicht.
Schmerz ist ein Output des Gehirns, und dein Gehirn ist ein Muster-Erkennungs-Organ. Es liebt Gewohnheiten, Routinen und Vorhersehbarkeit. Wenn du also immer wieder dieselbe Bewegung machst und dabei Schmerzen erwartest („Immer wenn ich meinen Arm so hebe, tut es weh“), dann verstärkt dein Gehirn dieses Muster.
Aber was passiert, wenn du die Bewegung anders ausführst?
Hier kommt das Prinzip der externen Ziele ins Spiel, das in der Neuroathletik verwendet wird:
Anstatt zu sagen „Hebe den Arm“, lass die Person mit einem Laserpointer ein Muster an der Wand nachfahren.
Anstatt „Beug das Knie“, spiel mit einem Ball, der den Fokus von der Bewegung selbst ablenkt.
Was passiert? Plötzlich ist die Bewegung schmerzfrei.
Warum? Weil dein Gehirn nicht mehr darauf wartet, dass es wehtut. Es ist mit einer neuen Aufgabe beschäftigt und umgeht die gewohnte Schmerzschleife.
Wie du dein Gehirn überlisten kannst – Strategien gegen Schmerz
Hier sind ein paar effektive Wege, wie du aus der Schmerzspirale ausbrechen kannst:
1️⃣ Schmerzedukation – Wissen ist Macht
Allein das Verständnis, dass Schmerz eine Hirnreaktion ist, kann helfen. Dein Schmerz ist echt – aber das heißt nicht, dass dein Körper zerstört ist.
2️⃣ Bewegung – aber clever
Zu viel Schonung verstärkt Schmerz – dein Gehirn denkt: „Aha, wir vermeiden das, weil es gefährlich ist.“
Aber auch zu aggressive Bewegung kann das Nervensystem weiter hochfahren.
Die Lösung? Spielerische Bewegung mit externen Zielen.
3️⃣ Sensorik trainieren
Riechtraining, Augentraining oder Gleichgewichtsübungen können das Nervensystem entspannen und die Schmerzmatrix beruhigen.
Denn je mehr Sinne integriert werden, desto sicherer fühlt sich das Gehirn.
4️⃣ Achtsamkeit & Atmung
Atemtechniken, Meditation oder kognitive Verhaltenstherapie helfen, den emotionalen Anteil des Schmerzes zu reduzieren.
Und wenn das Gehirn weniger Bedrohung wahrnimmt, senkt es den Schmerz automatisch.
Fazit: Schmerz ist eine Liebeserklärung des Gehirns
Eric Cobb sagt: „Pain is an output, not an input.“Moseley sagt: „Pain is the brain’s love letter to the body.“
Schmerz ist kein Zufall. Dein Gehirn versucht immer, dich zu schützen – aber manchmal übertreibt es. Die gute Nachricht? Du kannst es umtrainieren.
Lass uns also wieder mehr spielen – nicht nur, um Spaß zu haben, sondern um Schmerz zu vergessen.
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